Wie uns die Natur hilft, heil zu werden – Teil II

 

Aufzeichnungen eines Visionssuche-Prozesses von Mia Brummer.

Eva, 26 aus Berlin erfährt die Zeit gerade als Umbruchphase, die sie dazu nutzen will, endlich einmal für sich einzustehen und nicht nur für andere da zu sein. Im ersten Teil erlebten wir sie bei ihrer Vorbereitungszeit. Im zweiten Teil berichtet Eva über ihre Platzsuche und die „Solozeit“ in der Natur.

 

Eva`s Suche nach dem „richtigen Platz“ für ihre Auszeit:

„Ich bin über die Schwelle mit meinem Satz, aber irgendwie habe ich den Teil vergessen, in dem es um Zeit und Raum ging. Ich fühlte mich wieder im Süden, bin dem Bachlauf gefolgt, weil ich mir wünschte, eine Quelle zu finden. Ich fand ne supersüße Mulde aber es hat irgendwas nicht gepasst. Der Raum war nicht da. Das machte mich wütend. Ist es das jetzt oder nicht? Nö, ich habe keinen Raum. Bin weiter und fand einen Platz mit einem Zugang zum Bach und einer Badewanne! Und dann sehe ich einen Kiefernkreis, so rund wie ein Rad, so ein heiliger Platz….so viel Raum nur für mich!!! Das ist alles so rund!!! Ich wollte gar nicht mehr zurück. Jetzt freue ich mich wahnsinnig und bin so stolz, dass ich mich selber im Blick gehabt habe und mir die Zeit genommen habe, den Raum zu finden!“

Am Abend vor der Auszeit schreiben die Teilnehmer ein Gebet, das das Visionssuche-Team während der Auszeit jeden Abend beten.

Evas Gebet: 
„Liebe Erdmutter, ich bin zu Dir gekommen um Deinen Rat zu hören, zu fühlen, zu schmecken und zu sehen. Ich komme mit einem ganz bestimmten Anliegen. Dafür bitte ich um deinen Schutz und deine Geborgenheit um Raum und Zeit für Begegnung und Berührung. Ich bin zu Dir gekommen um in deinen Armen meine alte Haut abzulegen, um dann mit einem neuen Blick auf mich und die Welt wieder hinaus zu ziehen. Bitte begleite mich!“

Und dann geht Eva raus in die Natur. Vier Tage und Nächte hat sie nun Zeit, sich zu häuten und das zu leben, was sie in ihrem Satz verankert hat.

Als sie zurückkommt, erzählt sie ihre Geschichte:

„Als ich gestern von meiner Visionssuche nach Hause ins Basis-Camp gekommen bin, ist mir aufgefallen, dass ich ein Bild dabeihatte, das ich im Juli gemalt hatte, als ich ein sehr schlimmes Gespräch mit meiner Mutter hatte, das meine letzte Illusionsblase geraubt hatte. Ich habe das Bild um einen Stock ergänzt und um ein Tragetuch, um die kleine Eva immer bei mir zu haben.

Ich bin gegangen mit dem Satz: „ich nehme mir den Raum und die Zeit, die kleine Eva fest im Arm zu halten und halte mich und mein Leben achtsam und fürsorglich im Blick“.

Als ich aus dem Bannkreis, äh Steinkreis herausgetreten bin, ist mir ein Salamander vor die Füße gelaufen und gleich erwachte meine kindliche Neugier. Mir war klar: ich wollte meiner Freude und meiner kindlichen Neugier Raum geben. Am Platz bin ich nochmal über die Schwelle und fühlte:
ich war „drin“ und dieser Schutz war bis zum Ende da. Ich hab mich nicht gesehen gefühlt im Kreis, aber “ich muss überhaupt nicht gesehen werden sondern einfach nur mich selber sehen”. Vögel und Insekten waren zwar da, aber auch sofort wieder weg. Draußen, außerhalb meines Kreises bin ich vielen Wanderern begegnet. Das war ok. Ich habe viel Zeit für mich alleine verbracht, hab mich gespürt. Mein Tarp, meine Plane, war mein Rückzugsort, der hundsgemütlich war. Ich habe lang dran gebaut und umgebaut, ein paar echte Wut-Groller losgelassen und am Ende war ich so stolz auf mich als ich`s geschafft habe. Ein Stein war mein Kissen; der perfekte Ort, um ganz lange zu liegen und Gedanken wandern zu lassen. Irgendwann kam der Gedanke: Boah, ich will auch ne Quelle! Ich guck` so nach oben zum Berg und seh` ne Quelle! Ohne Rucksack und Jacke stieg ich zu ihr hoch, stand dann da oben und hab geweint. Auch dieser Säugling, der nicht Willkommen war, der hat ne Quelle und ist zum Bach geworden, hab ich erkannt.

Als ich wieder unten ankam, war ich patschnass und habe gefroren. Ich habe mich ins Bett gelegt, lag da und hab mich gefragt: wer bin ich eigentlich und was macht mich aus?
Am frühesten Morgen war ich wach, hab die Sonne gegrüßt und beschloss, den Tag der Sonne zu widmen und dabei gestaunt, wie sich die Welt doch nach der Sonne und dem Mond richtet. Da hatte ich ne richtig kindliche Ehrfurcht.
Am zweiten Tag hatte ich ein Gespräch mit meiner Mutter. Am dritten Tag hab ich gejubelt voller Freude, dass die Sonne da war. Mir ging es an diesem Tag dann richtig schlecht. Ich war zittrig und schwach. Sobald mein Körper runterkommt, kommen Gefühle. Mein Körper kam ins Fließen. Ich
hab wegen allem geheult und die die Tränentropfen fielen ins Gras. Alles ist da aus mir rausgekommen. Abends ging`s mir richtig schlecht. Gedanken ans Abbrechen kamen, mir war übel, aber ich konnte nichts loslassen. „Du hast versagt“ kam mir in den Sinn. Aber gleich drauf ein ´ich mach noch einen Tag und dann entscheide ich mich´. Dieses Mal aber nicht als Kämpferin sondern fürsorglich und achtsam. In der dritten Nacht habe ich fast nur dem Mond zugeschaut. Ich bin wohl ein Mondkind. Und ich habe mir das Potential meiner Wunde angeschaut.

In mir ist eine Anführerin. Ich hab ein ganz feines Gefühl für Menschen, kann gut reflektieren.
Solange ich die kleine Eva im Blick halte, kann ich der starke Mensch für andere sein.

Foto: Mia Brummer

Auszug aus Spiegel 1: Ich habe die Geschichte einer Frau gehört, die beginnt damit, dass wir ein Bild sehen durften:
die letzte Illusion ist geplatzt: ach, wenn sie mich nur endlich sähe, ach, wenn sie mich nur endlich verstünde! Es ist gut, das in diesem Alter schon zu merken, denn die Jahrzehnte die du jetzt nicht mehr hoffst, schaffen Raum für Neues. Ich kann Enttäuschung und Wut im Gesicht der frau sehen, die lassen sich nicht wegdrücken. Wer bin ich mit meiner Geschichte? Sie ist aus einem Bannkreis getreten, dem Bannkreis, die Gute, die Tolle, die Starke zu sein, die im Modus `UM ZU´ lebte. Um 
Anerkennung zu bekommen von den entscheidenden Menschen: Dem Vater und der Mutter.
Es ging darum, das `UM ZU` abzustreifen.
Der Salamander zeigt den Weg von schwarz zu Feuer. Die Frau sucht und findet einen Ort, wo sie nur auf sich schauen darf. Draußen pulsiert das Leben, damit hat sie kein Problem, ´das kann ich eh´, denkt sie. An ihrem Platz darf sie sich`s richtig gut gehen lassen und so baut sie zig mal um, bis es für sie passt. Was will man mehr? Der Platz ist so wunderbar. Da öffnet sich ein Raum, wo sie rausschauen kann, sieht ihre Quelle, ein fetter Wasserfall, der zu einem Bach wird. Wer bin ich? Auch dieser Säugling hat diese Quelle, die sie trägt, auch sie hat ihren Fluss des Lebens. Wie gern sitzen wir alle an ihrem Bach, trinken von ihrem Wasser, nehmen wahr, wie Freude entsteht… the river is flowing…
Ja, sie spürt die große Mutter, die das große Mütterliche hat, um das sie gebeten hat. Wir können unsere leibliche Mutter ein Stück weit entlasten; durch das Gestrüpp der eigenen Mutter durchschauen. Mit dieser kraft kann sie auch der Mutter alles sagen. So war auch ein Sehen möglich, ohne diese Wut. Sie wird so schwach dass sie denkt: ich muss vielleicht gehen und lässt alles aus sich herausfließen, als ob sie ihr Bächlein mit ihren Tränen speist und nährt. Und dabei überprüft sie: wie geht`s mir wirklich? Ganz schön, wie sie das abwägt.Sie findet den Weg über die kleine Eva, dem zu widerstehen: dem Blick von Außen. Und sie erkennt: Der Blick auf mich ist das Entscheidende. Dann darf sie alles sein, ihr Leben gestalten mit ihrem eigenen Zepter in der Hand, gepaart mit ihrem Feingefühl.

Auszug aus Spiegel 2:
 Ich habe die Geschichte einer Frau gehört, die die kleine Eva fest im Arm halten mag und fürsorglich den Blick auf sich selbst richtet. Die Fürsorge hat mich sehr angezogen in dem Satz. Es hat mich sehr berührt, wie fürsorglich die Frau in den ganzen vier Tagen war. Sie geht aus dem Kreis und der Salamander begrüßt sie. Sie sorgt gut für ihren Platz; einer, an dem sie tief blicken kann aber kein anderer Einblick erhält. Sie konnte mit sich sein, mit ihren Prozessen. Alleine mit sich und es war gut so, sagt sie. Mein Reich, mein Platz, mein Blick. Und sie hat es sich hundsgemütlich gemacht, belohnt mit einem Steinkissen. Der Ruf zur Lebensquelle lässt sie alle Regeln vergessen. Sie geht dem Sehnen noch einmal nach, dem Ruf zu recht auf dieser Welt zu sein, Teil der Quelle zu sein und auch groß zu werden, Klarheit mit sich zu bringen, Teil der Natur zu sein…. es ist auch ihre Quelle und ihr Recht auf Leben. Was macht mich aus, wo liegen meine Schwächen, fragt sie sich. Die Sonne ist da und begrüßt sie. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt und Platz für Orientierung und zu verstehen, wie die Welt läuft – ein Frösteln zeigt, dass da noch was aussteht. Sie ist nun bereit für das Gespräch mit der Mutter, sagt, dass es gut war. Der Körper fahrt runter, kommt gleichzeitig ins Fließen wenn sie loslässt.

Darf sie ganz loslassen? Darf ich abbrechen, darf ich versagen? Es geht um die eigene Fürsorge.
Sie ist auch ein Mondkind….sie sorgt für sich und erkennt: ich kann auch sein und nimmt ihren Platz ein.

Nach diesen magischen Tagen in der Natur, in denen ein neuer Mythos geboren wurde, fällt es den Teilnehmern einer Visionssuche meist schwer, sich aus dieser Traumzeit zu lösen. Wie mag es wohl sein, nach Hause zu kommen? Wie kann das Erlebte im Leben Fuß fassen?
Wie reagiere ich auf Fragen wie „und, hast du jetzt deine Vision?“ Wie kann ich das Erlebte in die Welt bringen, ohne dass ich es entkräfte, entheilige?

Daher ist die Inkorporationszeit nach der Visionssuche eine wichtige Phase, um das Erlebte, die neue Haut auch in den Alltag mitnehmen zu können. „Was könnte dein erster Schritt sein um den Satz zuhause in Dein Leben zu bringen, so dass Du ihn wahrhaftig leben kannst? Was wirst Du tun, so dass ein anderer merkt, dass sich etwas verändert hat? Die Teilnehmer machen sich dabei auf die Suche nach einem ein Schritt, der ein Zeichen setzt: „ich geh den Weg und er ist nicht rückgängig zu machen.“ Ein Mantra und Visualisierungen sind ganz schön, aber da ist keine Bewegung drin; es geht darum, ins Handeln zu kommen. Die Teilnehmer setzen sich zu zweit zusammen und klopfen ihre Ideen gegenseitig ab. Den neuen Handlungen soll die Anstrengung rausgezogen werden. Es soll Freude bereiten, den Satz ins Leben zu bringen, ohne dass sich das Über-Ich gleich wieder draufsetzt und einem alles um die Ohren haut.

Evas erster Schritt:
Ich habe erkannt, dass ich gar keinen Rückzugsort habe. Wenn ich heimkomme, dann baue ich mir eine richtig schöne Kuschelhöhle, einen Ort für mich ganz alleine, da darf niemand rein.

Die letzte Frage am Ende einer Visionssuche gilt dem, was man mitnimmt.

Eva fasst das Erlebte zusammen: „Ich nehme eine sehr große Verbundenheit zu meiner Mutter Erde mit, die ich da draußen in ihrem Schoß ganz intensiv erleben konnte. Und ich nehme eine tiefe Verbundenheit zu mir selber mit. Ich fühle, als wäre alles in mir voll und ganz. Ich bin so glücklich, dass ich mir den Raum und die Zeit gegeben habe, heil zu werden. Und ich habe das Gefühl, dass ich mit beiden Beinen im Leben stehe. Und wenn ich mich mal wieder orientierungslos fühle, dann brauche ich keine Ratgeber sondern ich gehe einfach in die Natur. “

Während ich diese Zeilen schreibe, frage ich mich, wie lange es wohl in einem therapeutischen Setting gedauert hätte, diesen Prozess zu durchlaufen. Das, was ich bei der Begleitung von Visionssuchenden immer wieder erlebe ist, dass der Weg aus einem starren Konzept seiner selbst hin zum Erleben eines authentischen Seins durch die hautnahen Erfahrungen in der Natur abgekürzt wird, ohne dabei die Erkenntnisse zu verwässern. Die Natur wertet nicht. Alles, was ist, darf sein. Und so erlebt sich der Mensch, geborgen in einem viel größeren Kontext, einer viel weiteren Dimension. Er erfährt Zusammenhänge und zwar tief in seinem Ich-Erleben und nicht durch intellektuelles Verarbeiten. Ein Heil-Sein in der Natur, da sich der Mensch als Natur wahrnimmt und begreift.

Mia Brummer

Gerade in herausfordernden Zeiten kann uns die Natur Orientierung und Halt bieten, da sie uns verlässliche Strukturen in dem zyklischen Kontext von Werden und Vergehen aufzeigt. Dazu muss man sich nicht gleich auf Visionssuche begeben. Auch eine Medizinwanderung kann uns auf unserem Weg eine großartige Hilfe sein. 

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